Provinz Alicante: Mit Erinnerungskultur und Tourismus Wunden heilen
Auf der Fahrt durch die Provinz von Alicante mischen sich Festungen, Felsen, Schluchten und alte Stadtmauern immer wieder mit hässlichen Neubauten und verwahrlosten Gewerbegebieten. Es ist das typische Bild einer Provinz, in der sich die Erinnerung an den mittelalterlichen Ruhm mit dem unkontrollierten Massentourismus kreuzt. Die Feier der "Mauren und Christen" sind wohl das berühmteste Beispiel dafür.
Die bedeutendsten "Mauren und Christen"- Feiern der Provinz finden u.a. in Alcoy, Sax (Bild), Petrer, Villena, Bocairent, Crevillent und Callosa d'en Sarrià statt. Sie werden zu völlig unterschiedlichen Zeiten organisiert und erzählen mit Theaterstücken, Konzerten und Wettkämpfen Ereignisse der "Reconquista" (Rückeroberung). So wird der jahrhundertelange Versuch der Christen genannt, die Iberische Halbinsel wieder unter Kontrolle zu bringen.
Dargestellt wird bei den Festlichkeiten der Zeitraum von etwa 780 Jahren zwischen der Eroberung des christlichen Hispaniens durch die muslimischen Umayyaden im Jahr 711 und dem Fall der maurischen Dynastie im Jahr 1492. Die Städtenamen erinnern wie die Festungen an die arabische Besetzung und die glorreiche Vergangenheit der Iberischen Halbinsel.
(Quelle: Ayuntamiento de Petrer)
Das friedliche Miteinander, in das auch Touristen einbezogen werden, ist kennzeichnend für die bunten Festtage in Alicante. Für den Geschichtslehrer Pepe Cabanes aus Villena sind diese geschichtlichen Reproduktionen, an der sich das ganze Dorf mit Schneider- und Schauspielarbeiten beteiligt, von enormer Bedeutung für das Zusammenleben.
(Quelle: Stefanie Claudia Müller)
Denn die arabischen Spuren sind überall sichtbar und das Fest der "Moros y cristianos", wie es auf Spanisch heißt, ist inzwischen ein touristisches Großereignis, das im Frühjahr und Herbst stattfindet. Das ganze Jahr über bereiten sich die Nachbarn darauf vor. Bekannt sind besonders die Reconquista-Feiern in Alcoy, wo wie beim deutschen Karneval der Alkohol eine wichtige Rolle spielt.
Überall in Alicante wird anders gefeiert, aber die Religion spielt bei den "Mauren und Christen" immer eine Rolle. Noch heute sind die Spanier stolz auf das Zusammenleben von drei Religionen und Kulturen, was auch erklärt, warum sie so viele Touristen in ihr Land gelassen haben. Weniger Erinnerung und Dokumentation gibt es in Bezug auf die jüngste Geschichte: die Republik, der Bürgerkrieg und die Diktatur.
(Quelle: Cale Weaver / Unsplash)
Die Hunderte von Festen und Freizeitaktivitäten, die in Spanien von römischen Gladiatoren bis hin zu mittelalterlichen Königen nachempfunden werden, sind auch ein Generator für wirtschaftlichen Wohlstand, kulturellen Austausch und ein Tourismus-Magnet, glaubt Enrique Sánchez von Open Comunicación. In Villena wird die Befreiung von den Arabern sogar mit altem Salat gefeiert (Foto).
(Quelle: Asociacon de Vecinos de Villena/Rabal)
Geschichtslehrer Cabanes lädt nicht nur Menschen ein, die mit den Schülern an dem von den Karmelitern geführte Colegio Vedruna in Alcoy über moderne Erinnerungskultur diskutieren, sondern er hat es auch geschafft, mit Kultur und Geschichte Wunden in seinem Heimatort Villena zu heilen: "Wir müssen wissen, was war und kritisch darüber reden können."
(Quelle: Colegio Vedruna)
Die Spanier lieben ihr Dorf und in der Provinz Alicante besonders. Cabanes ist das beste Beispiel dafür. Mit Festen und Wettbewerben versuchen die Nachbarn von Villena, den historischen Stadtkern wieder attraktiv zu machen, über dem die Festung Atalayar wie ein Mahnmal ragt.
(Quelle: Stefanie Claudia Müller)
In der 35.000-Einwohner-Stadt Villena wird vor allem die "reconquista" gefeiert. Im Zentrum ist das Atalayar, eine wichtige Festung an der Nordgrenze des islamischen Emirats Iberien. Im Sommer organisiert die Nachbarschaftsvereinigung hier ein Picknick-Abendessen, an dem hunderte von Bürgern teilnehmen und sich austauschen.
(Quelle: Stefanie Claudia Müller)
Gefeiert wird hier vor allem die Rückeroberung der Festung im Jahr 1476, als die Bürger von Villena, ermutigt von den Katholischen Königen, gegen die Marquisen rebellierten. Nach diesem Ereignis war die Burg nicht mehr Residenz der Markgrafen und ging zusammen mit der Stadt in den königlichen Besitz über.
(Quelle: Asociación de Vecinos Villena/Rabal)
Cabanes und seine aktiven Nachbarn organisieren inzwischen vier verschiedene Events in der Kleinstadt. Dazu gehört auch das Rabalfest, einer Art von Oktoberfest mit Dirndl und Lederhosen: "Uns geht es darum, die sozialen Probleme zwischen den Kulturen und Generationen, die hier leben, durch die Gemeinsamkeit zu überwinden."
(Quelle: Stefanie Claudia Müller)
Auch wenn die Gebäude zerfallen und die besten Jahren vorbei sind, Städte wie Alcoy und Villena zehren von der Vergangenheit und einem sehr unabhängigen Spirit. Alcoy, wo es auch einen preisgekrönten Friedhof aus dem 19. Jahrhundert zu besichtigen gibt, war Zentrum der Anarchisten im 20. Jahrhundert und ein bedeutendes Industriegebiet.
Auch in der Provinzhauptstadt Alicante herrscht keine architektonische Harmonie. Zwischen dem historischen Stadtkern wurden Hochhäuser und Riesenhotels gebaut, teilweise direkt am Meer, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist. Alicante lebt inzwischen auch vom Gesundheitstourismus, weil hier ein internationaler Hub für Reproduktionsmedizin entstanden ist.
Das Hinterland entdecken die Strandtouristen von Calpe (Bild) und Umgebung nur wenig. Dabei hat Villena sogar eine Station für den Hochgeschwindigkeitszug. Das Leben dort im Hinterland ist mit Monatsmieten von 500 Euro für 3-Zimmer-Wohnungen deutlich billiger. Die deutschsprachige Costa Blanca Nachrichten unterstützt inzwischen das Rabalfest in Villena, wo es auch deutsches Bier und Würstchen gibt.
Der sozialengagierte Cabanes kämpf mit seinen Nachbarn um mehr Prestige für den Rabal, für sein nicht konfliktfreies, aber einzigartig historisches Viertel in Villena. Der zweifache Vater und leidenschaftliche Schwimmer opfert dafür viel Freizeit: "Ich bin hier groß geworden. Ich verteidige nur mein Zuhause. Aber nicht mit Waffen, sondern mit Kultur, Erinnerung und Integration."
(Quelle: Stefanie Claudia Müller)